Ein Wort zu mir selbst bzw. 9254 Zeichen

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Ein Wort zu mir selbst bzw. 9254 Zeichen

„…eine persönliche Philosophie…“

Seit ich singen kann und Musik hören kann, bin ich fasziniert von der Vielfalt, der rhythmischen, der musikalischen, der menschlichen & persönlichen Vielfalt. Als ich in meinem Studium diese Faszination unterstützt sah, begab ich mich danach auf einen ungewöhnlichen Weg.

Ich benutzte meine Stimme als Mittel, Charaktere und Kulturen  zu erforschen, darzustellen, zu imitieren, zu durchdringen, mich zu identifizieren und mutig variabel zu werden. Musik und Rhythmus, Mimik und Körper wurden jeweils angepasst. Es entstanden ganze Geschichten oder Personagen, rein musikalisch und stimmlich dargestellt. Ich setzte Instrumente ein, die mir dazu „in die Hände fielen“ und spielte nur dann „anständig“ Klavier, wenn es zu dem Ausdruck, den ich brauchte, passte. Das Abfluss-Rohr brachte mir den tiefen, indischen, Tabla-ähnlichen Charakter, die Plastik-Flaschen und das Delay einen ungeheuren perkussiven Reichtum, die kleine Casou-Trompete oder die Kalimba, die Steel-Drum oder ein Akkordeon jeweils das, was ich brauchte. Die fetten Achtel-Akkorde auf dem Klavier den russischen Charakter und die mit Händen gedämpften und gezupften Saiten am Klavier die Grundlage für den „untertönigen“ Mönch aus der Mongolei. Unerschöpflich aber: die Facetten der menschlichen Stimme!

Fremde Zungen, Sprach-Phantastereien, die ich „mein Schortuanisch“ nannte, halfen mir dabei den jeweiligen Charakter zu unterstreichen, denn bekanntlich haben ja auch Kulturen ihren Charakter. Aber auch das Experimentieren mit verschiedensten Stimm-Techniken. Dass das Ganze einen „komischen Zug“ hatte, allein die Idee, sich so treu einem musikalischen Stil zu entziehen, wurde mir bald auf der Bühne bewusst. Der Humor lag mir – und warum nicht die Leute zwischendurch aufmuntern, bevor ein Stück zum „mitweinen“ kommt. Da mir nicht bewusst war, wie komisch ich eigentlich bin, wurde ich mit einigen Preisen beschenkt, die mir eine Zeit lang Aufmerksamkeit und Ehre erwiesen. Da es sämtlich Kabarett-Preise und Kleinkunstpreise waren, gelangte ich in eine Schublade, in der ich nicht sein wollte. Mein Humor in Ehren, aber meine musikalischen Fähigkeiten litten darunter, das Publikum erwartete mehr und mehr „verständliches“ deutsches Lachfutter (Comedy wurde „in“) – Talkshows, die großes Interesse signalisierten an meiner Kunst, zogen kurz vor Vertragsabschluss wieder den Schwanz ein. Irgendwie war ich lustig und absolut professionell und ernst zu nehmen aber irgendwie auch kompliziert komplex und KAPPES eben. Schortuanisch fürs breite Volk – das geht nicht über TV. Dabei spricht jeder Mensch zu Beginn seines Lebens „schortuanisch“.

„…das muss ich erst mal verarbeiten, diesen Zirkus im Kopf…“

— Meine Mutter, nachdem sie mich das erste Mal hörte.

Die Orte, an denen ich spielte oder performte, wurden mehr und mehr vielfältig: von Kirchen über Tunnel, Messe-Stände über Zelte, in Bäumen hängend, auf Böden liegend, auf Hochzeiten, Geburtstagen und Beerdigungen singend, in Theatern, Museen, Krankenhäusern, Kleinkunst-Bühnen, Varietés und in meinem eigenen Raum für künstlerische Freiheit.

Gleichzeitig erfuhr ich mehr und mehr, dass wenn ich ein Konzert machte, ich  nicht -wie viele Solisten danach-  in einem “post-konzertanten – depressivem Stimmungstief“ hing oder ausgepowert war, sondern dass jedes Konzert einzigartig war und einen äußerst aufmunternden, fast heilsamen Charakter hatte. Wenn das Drum Herum stimmte, war es für mich und ist es bis heute ein Ritual, eine Initiation, ein Fest, ein magischer Moment.

„Warum eigentlich ist dies so?“ fragte ich mich.

Im Moment meiner Präsentation, gebe ich in irgendeiner Weise und zum Teil mein persönliches ICH ab und versetzte mich in eine Art  neutralen Zustand, (hier arbeite ich u.a. mit Mitteln der Theater-Art Lecoqs) um da heraus in vielfältigste Facetten zu gelangen. In Flexibilität und Dynamik, übe ich  Stimmungs-Wechsel und werde mir gewahr, wie haltlos eigentlich IDENTITÄTEN sind und dass unter diesen IDENTITÄTEN, unter den Facetten des SEINS etwas noch ganz anderes zu finden ist, dessen Name nicht existiert. Es ist mehr als IDENTITÄT, es ist NAMENLOS und daher nicht angreifbar und es hat irgendwas mit LIEBE zu tun.

Die Art und Weise mit Musik umzugehen, ist genauso wichtig, wie die Art und Weise, wie ich sie interpretiere. Musik ist für mich ein HEILIGES MITTEL Gestalt zu finden, in dem großen Pool an Möglichkeiten, der uns als Mensch zur Verfügung steht. MUSIK darf daher nicht „gepeinigt“ werden. Musik darf niemals Stress sein oder Druck. Auch ist sie nicht Sklavin, um mir und meinem Ego zu dienen. Sie ist heiliges Mittel, welchem ich diene. Musik ist und bleibt DIE KUNST, die aus der Natur entstand, aus schwingenden Tönen und ihren Unterteilungen, Musik ist das Mittel für den  Menschen, das wieder zu finden, was er eigentlich schon ist und darstellt, aber vielleicht verloren hat. Musik ist RESSOURCE, weil sie unmittelbar auf das autonome Nervensystem wirkt, der Körper gerät in Schwingung, der Rhythmus überträgt sich UNMITTELBAR. So wie die Natur wichtig  für das Tier ist, so ist Musik ein Ort der Regeneration für uns, ein Raum für „ Regulierung“. Wir können uns das zurückerobern jene Schwingungen oder Tempi, jene Rhythmen, jenen Ausdruck, der uns gerade fehlt.

Deshalb ist sie das höchste GUT auf ERDEN. Aber ohne Liebe und Hingabe funktioniert sie nicht!

„…ich weiß nicht, was es ist, aber ich fühle mich nach einem Konzert von Dir irgendwie wie innerlich geduscht, eine Welten Reise in und durch mein Inneres, es zeigt mir, was da alles noch so verborgen ist, weil ich mich identifizieren kann, mit dem was Du vorträgst…“

— Besucherin eines Konzertes

Und noch was: Mit großem Respekt verbeuge ich mich vor dem Geschenk der Stimme. Sie ist das Mittel, um in Kommunikation  und Beziehung zu treten und noch dazu auf wunderbarste Weise mit Musik kombinierbar. Sie ist das Medium der Authentizität und der Wahrheit.

Ich lerne in meinen zum Teil improvisierten Stimm-Verlautbarungen und Gesängen immer wieder von neuem, dass uns sehr viel mehr möglich ist und zusteht, als wir gewahr sind. Eine Stimme, die sich von Facette zu Facette schwingt, zeigt mir den unendlichen Reichtum des Lebens, dessen ich mich eigentlich nur bedienen müsste. Ich gebe zu, im Alltag ist das nicht so leicht, wie es hier klingt.

„Frau Kappes, Sie haben eine so wunderbare Stimme, wieso singen Sie nicht einfach nur normal und schön?“

— Verzweifelte Besucherin eines Konzertes von mir  im Nikolaus von Cues Museum

Ich weiß, ich hätte das Zeug dazu eine ganz normale Sängerin zu sein: Klassik, Oper, Jazz…aber irgendwas in mir zwingt mich seit 25 Jahren diesen Weg zu gehen, den ich gehe. Er ist meine Berufung. Der Weg des Wandels. Der Weg der Herausforderung.

„Weil der Mensch in den verschiedensten kulturellen Phänomenen die unendliche Kreativität Gottes nachahmt, diese aber unerreichbar bleibt, kann keine konkrete Kultur die letztgültige sein und über alle anderen einen Absolutheitsanspruch erheben. Die Vielfalt der Kulturen ist für Cusanus vielmehr der positive Wert, denn in ihr spiegelt sich die Unerschöpflichkeit der Unendlichkeit des Schöpfergottes.“

Nikolaus von Cusanus

Als äußerst sozial bezogener Mensch und mit großem Bedürfnis ausgestattet, meine Energien zu verteilen und in Kontakt zu treten mit Menschen, habe ich nebenher immer auch pädagogisch gearbeitet und versucht meinen Stil weiterzugeben, aber auch weiter zu erkunden. Auch hier waren die Wege vielseitig und facettenreich. Auch hier geht es um Erforschung von Identitäten: wer bin ich noch als die, die ich scheine…?

Ich gebe zu, dass die Treue an dem Facetten-Reichtum einen hohen Preis hat: das Leben entwickelt sich spiralförmig, nicht geradlinig, auch ist „durchstarten“ nicht angesagt (was auch immer das heißt, auch kann es passieren, dass Web-Seiten über drei Jahre lang veraltet rumgammeln…)

Ich habe erkannt , dass das, was ich mache, nicht ganz ins normale „Musik-Geschäft“ passt , trotz meines „Voll-Blut-Musikerinnen-Status“, da es nicht zuordnungsbar scheint, es ist kein Kabarett, kein Chanson-Abend, kein Musical, noch am ehesten eine Passion, weil eine Leiden-Schaft !

„Sie singt wie es ihr gefällt…Wer einmal Hilde Kappes, diese schwindelnden Verwandlungen von künstlicher Koloratur zu tragischem Urschrei zu schnulzigem Schmettern vernimmt und sodann die ironische Selbstzurücknahme, der ist erst schockiert, dann berührt und wird dann süchtig und will mehr und immer mehr hören!“

— DIE ZEIT

Im Theater überlegt man nicht, was es für ein Stil ist, wenn einer schreit, brüllt, säuselt oder singt, ein Gauner ist oder eine Heilige. Im Theater gibt es Rollen, wie aus dem richtigen Leben gegriffen, so wie bei mir. Deshalb muss man nicht groß nachdenken darüber, was oder wer ich sein könnte oder gar traurig sein darüber, dass ich weder Hip-Hop noch Pop noch Chanson noch Klassik, noch World noch Neue Musik bin. KURZ! Ich BIN – ganz einfach….

….:  Ein „Musik- und Stimm-Theater der Identitäten“ in welchem Humor und Tiefsinn, Spirituelles und Fadenscheiniges, Moralisches und Unmoralisches, Intelligentes und Blödes, Klassisches und Rockiges, sich vereinen kann oder streiten kann, so wie es in der Welt tatsächlich auch geschieht. Eine Welt der Pole, der Gegensätze!